Archimedes 1.2.3


Photo by Bülent Kacan 2024


Archimedes 1.2.3

Die Nasa veröffentlicht hin und wieder spektakuläre Bilder von weit entfernt liegenden, magisch aufleuchtenden Galaxien, regelrechte Augenweiden des Universums, der Betrachter der Aufnahmen kann sich nicht daran sattsehen. Was die Nasa nicht öffentlich macht, sind die jüngsten Bilder eines würfelförmigen Planeten mit der Bezeichnung Archimedes 1.2.3 Der Planet drehe in einem eher abgelegenen Winkel des Universums seine Runden, wie es von inoffizieller Seite heißt. "Archi", wie die Mitarbeiter der Nasa den Planeten verniedlichend nennen, werde von Wesen bewohnt, die einen eigenartigen, quadratförmigen Schädel aufweisen, neueste bildgebende Verfahren der Astrophysik geben diesen Sachverhalt relativ eindeutig wieder. Einmal in 70 oder 80 Jahren bilden seine Bewohner zwei gegnerische Lager, marschieren sie geradewegs aufeinander los und führen die Kontrahenten einen erbitterten Krieg gegeneinander, währenddessen sie regelrechte Vernichtungsfeldzüge unternehmen. Der nächste planetarische Aufmarsch der Quadratschädel werde aller Voraussicht nach noch im Jahr 2090 erfolgen, dies haben neueste Berechnungen des Superhochleistungscomputers namens "Geschwind" ergeben. Die bildgebenden Verfahren der Astrophysik ermöglichen bereits jetzt schon gestochen scharfe Bilder eines Ereignisses, das, schenkt man den Berechnungen Glauben, mit ziemlicher Sicherheit in ferner Zukunft eintreten wird. "Geschwind" wäre ohne die Bilder des Weltraumteleskops James-Webb allerdings hoffnungslos aufgeschmissen, das Teleskop - mit dem man im Übrigen um die intergalaktische Ecke gucken kann - sei das unbestechlich scharfe Auge der Nasa, der Rechner selbst sei bloß eine Art Black Box; ohne Daten sähe er ziemlich alt aus. Jedenfalls warten die Quadratschädel alle 70 oder 80 Jahre auf einen Weckruf ihrer "Führer", wie hochrangige Mitarbeiter der Nasa das koordinierte Vorgehen auf dem Planeten bezeichnen. Seine Bewohner erwachen dann geradezu aus einer Art planetarischen Dornröschenschlaf, bevor sie zeitgleich, wie auf geheimen Befehl hin ihre kunterbunte Alltagskleidung ablegen und in eine Art uniformierte Kleidung schlüpfen würden, der Vergleich mit grauen oder olivfarbenen Uniformen, wie man sie in der menschlichen Zivilisation antreffen könne, sei gar nicht Mal so weit hergeholt, vor allem das Militärwesen könne hierbei als Beispiel angeführt werden. Gäbe es die Uniformierten nicht, so ein ranghoher Mitarbeiter der Nasa, so würde alles kreuz und quer durcheinanderlaufen, ein geordneter Aufmarsch ließe sich dann nicht so ohne Weiteres bewerkstelligen, auch wäre man außerstande, das für sämtliche kriegerische Konflikte nötige, in seiner Funktionsweise recht einfach gestrickte, nichtsdestotrotz überaus effektive Freund-Feind-Schema anzuwenden: WIR sind die GUTEN und die ANDEREN sind die BÖSEN! Und auch wenn man den Satz auf den Kopf stellen und davon ausgehen würde, dass sich die Verhältnisse grundlegend ändern, so bleiben die ANDEREN doch weiterhin die BÖSEN und WIR die GUTEN. Man kann die Sache also drehen und wenden wie man will, das Freund-Feind-Verhältnis ist, hat es sich einmal in den Quadratschädeln eingenistet, schwer aus der Welt zu schaffen. Das Problem an der ganzen Sache sei allerdings, dass die ANDEREN genauso denken wie WIR! Mathematisch genau genommen haben wir es also mit ZWEI GUTEN und ZWEI BÖSEN Fraktionen zu tun, obwohl wir es insgesamt nur mit EINER Gegnerschaft zu tun haben. Die Gleichung gehe nach Adam Riese zwar nicht auf, allerdings sei die menschliche Vernunft in Ausnahmesitution, wie beispielsweise in Krisenzeiten, außerordentlich flexibel. Kriege, ob nun von langer Hand geplant oder kurzerhand vom Zaun gebrochen, wären ohne das Freund-Feind-Schema jedenfalls faktisch unmöglich.

Auf "Archi" laufe es ganz ähnlich ab. Gleichwohl finde der Aufmarsch dort unter extremen atmosphärischen Bedingungen statt, die Luft sei, wie es heißt, ziemlich dünn auf dem Planeten. Die uniformierten Quadratschädel würden ihren "großen Führern", wie es heißt, konsequent Folge leisten, deren Existenz sei faktisch nicht von der Hand zu weisen, dies würde die Auswertung der Bilder, die das James-Watt-Teleskop quasi im Stundentakt liefere, mit ziemlicher Sicherheit relativ eindeutig bestätigen. Zuletzt würden, wie gesagt, beide Quadratschädelfraktionen geordnet aufeinander losgehen, ein Umstand, der auf eine hochkomplexe Befehlsstruktur, auf eine ungemein intelligible Führerschaft, ja, auf eine höhere planetarische Intelligenz hinweise, die Ähnlichkeit mit der menschlichen Intelligenz sei frappierend, die Auswertung des Webbschen Bildmaterials lasse gar keinen anderen Schluss zu. Der Aufmarsch der Quadratschädel führe allerdings nicht sehr weit. Irgendwann sei mit dem Gemetzel Schluss. Irgendwann, so der ranghohe Mitarbeiter der Nasa, der sicherheitshalber anonym bleiben möchte, kämen die Quadratschädel an ihre Grenzen, die Würfelform des Planeten ließe gar keine andere Schlussfolgerung zu, ihr Absturz sei gewissermaßen vorprogrammiert. Tatsächlich haben neueste Berechnungen des Supercomputers ergeben, dass alle 70 oder 80 Jahre ein Großteil der Quadratschädelpopulation verschwindet – Alea iacta est! Mit einem Mal verschwinden die Quadratschädel von der Bildfläche, „als hätte sie der Erdboden verschluckt!“, so der Mitarbeiter. Die vorläufig letzten Bilder der Bewohner stammen von einer der Abbruchkanten des würfelförmigen Planeten, sie stammen aus dem Jahr 2090, in den darauffolgenden Jahren gehe es auf "Archi" stockfinster zu. Der ein oder andere Kollege, so der Nasa Mitarbeiter, der, wie gesagt, lieber anonym bleiben möchte, mache sich im Anschluss einen Spaß aus den Auswertungen des Bildmaterials, indem er beispielsweise eine der berühmteren Formulierungen des großen deutschen Philosophen Immanuel Kant aus dem Zusammenhang reiße und sie in großen goldenen Lettern über eines der stockfinsteren Fotos des nunmehr stockdüsteren Planeten anbringe:


Aufklärung ist der Ausgang des Quadratschädels aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.


Er selbst halte überhaupt nichts von derartigen alienphoben Zuschreibungen. Man müsse, so seine Überzeugung, die universellen Menschenrechte ernst nehmen und, wenn schon, denn schon, auf den gesamten Kosmos ausweiten. Allerdings, so räumt er ein, müsse man diese erst einmal auf dem eigenen Planeten verwirklichen, alles andere wäre unglaubwürdig. Andererseits habe "Geschwind" nahezu exakt berechnet, dass „Archi“ eine rechteckige Umlaufbahn haben müsse, im Unterschied zu seinen Nachbarplaneten, die eine eher elliptische, erdähnliche Umlaufbahn aufweisen. Ob ein Zusammenhang zwischen der Umlaufbahn des Planeten, seiner quadratischen Form und den zyklisch wiederkehrenden bellizistischen Angewohnheiten seiner Bewohner bestehe, könne nicht abschließend gesagt werden, die Forschungen diesbezüglich laufen noch. Bei der Nasa sei man jedenfalls froh darüber, dass es sich im Fall der Erde um einen kugelförmigen Planeten handle. Innerhalb der menschlichen Spezies stellten Quadratschädel eher eine Ausnahme dar. Schenkt man den Berechnungen des Superhochleistungscomputers Glauben, könne man das Verhältnis Quadratschädel vs. Rundbirne in etwa haargenau mit 1: 100 000 000 000 beziffern. Bei der Nasa sei man sich jedenfalls sicher, dass die Menschheit aus den Fehlern ihrer Vergangenheit gelernt habe, Weltkriege, wie sie die Menschheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts an den Rand des Abgrunds geführt haben, werde es sicher nicht mehr geben, „Geschwinds“ relativ exakte Berechnungen lassen gar keine andere Schlussfolgerung zu. Auf die Fragen eines Investigativjournalisten hin, der vorsichtshalber anonym bleiben möchte, weshalb „Geschwind“ eine quadratische Form aufweise und wie man das weltweit verstärkte Aufkommen autoritärer Führergestalten einordne – es handelt sich ausnahmslos um Quadratschädel! - dies gleichermaßen im Hinblick auf den brüchigen Weltfrieden sowie hinsichtlich der Existenz des weltweit vorhandenen Atomwaffenarsenals, das nach wie vor monströse Ausmaße habe - „außerirdisch“, wie der Journalist betont - erntet man zumindest im Fall des ranghohen Nasa Mitarbeiters nur ein hilfloses Schulterzucken. „Die Berechnungen „Geschwinds“, so der Mitarbeiter, “seien in der Tat noch nicht ganz abgeschlossen”. Auch habe die quadratische Form des Superhochleistungscomputers einen ganz praktischen Grund - bei Bedarf könne man gleich mehrere der grauen Kästen platzsparend, sozusagen in Reih und Glied nebeneinanderstellen.

Jedenfalls werde man, sollten neue Ergebnisse vorliegen, die Öffentlichkeit umgehend in Kenntnis setzen, man werde sie der Weltöffentlichkeit ganz sicher nicht vorenthalten...

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