Bülent Kacan

Meditation und Mitte


Meditation und Mitte

Möglicherweise besteht der Irrtum des Meditierenden, der sich in die Einsamkeit der Wälder zurückgezogen hat, darin, dass er eine Mitte innerhalb einer absoluten Leere vermutet, in der sie gar nicht vorhanden ist, nämlich in ihm selbst. Der Meditierende müsste seine Mitte, die er konzentriert finden, die er kontemplativ wiederfinden möchte, erst erschaffen, er müsste dies inmitten einer Welt der Extreme erreichen, in der eine sichere Selbstverortung, wie es scheint, unmöglich ist; es zieht und zerrt noch in der tiefsten Waldeinsamkeit an ihm. Würde sich uns die Gelegenheit bieten, die wenigen verbliebenen Nomaden, die in unserer zugestellten Welt noch halbwegs frei und ungehindert umherziehen dürfen, nach dem Zentrum ihrer Welt zu befragen, so würden sie ganz sicher auf ihre Jurte zu sprechen kommen, diesem hellen Orientierungspunkt am fernen, sich zusehends verdüsternden Horizont, darin Tag und Nacht ein Herdfeuer lodert, um das sich nachts, wie uns die Umherziehenden verraten, sämtliche Familienmitglieder versammeln; ein leibhaftiger Ring ineinander verschränkter Körper und Körperteile - Köpfe, Arme, Hände, Beine und Füße, die sich um einen glühenden, wundersam wärmenden Fixstern winden, man könnte fast meinen, es handelt sich um unsere Sonne. Tatsächlich verwandelt sich die Jurte der Nomaden spät nachts, nimmt das Zelt der Hirten die Gestalt eines Planetariums an, in dem sich ihre Träume nach und nach verselbstständigen und auf mysteriöse Umlaufbahnen geraten, in deren Zentrum sich der traumversunkene Mensch befindet, mit all seinen unerfüllten Wünschen, Hoffnungen und Sehnsüchten; wilde, wirbelnde, bisweilen wütende und wirre Träume, die bis zuletzt auf ein Eigenleben pochen, Träume, denen mit dem menschlichen Verstand allein nicht beizukommen ist – was wissen wir schon von der geheimnisvollen Kehrseite des Lebens, die noch nicht der Tod ist, das endgültige Aus und doch weit über das Leben hinausgreift?

Es ist ein lauter Funkenschlag kurz vor Morgengrauen, der für ein allgemeines Raunen im Zeltinneren sorgt. Hier und da steigen Funken aus dem glühenden Ofen auf, abspenstige Hitzköpfe durch und durch, doch nur wenige bewahren sich bis zuletzt ihre Inbrunst und schaffen den Ausgang ins Freie, bevor sie, hoch oben an der Krone der Jurte angelangt, die im Übrigen himmelwärts geöffnet ist - eine kleine, kreisrunde Öffnung, darüber sich ein funkelndes, unendlich reich verziertes Himmelszelt erstreckt - von einem Windstoß erfasst werden und verglimmen. Am Horizont tauchen kurz nacheinander zwei Sternschnuppen auf, verirrte Zeitgeister, wie es scheint, sie hinterlassen für Bruchteile einer Sekunde Spuren eines Funkenschlags, der unendlich weit zurückliegt; der Himmel über uns, er brennt!

Ein lautes Gähnen geht durch das Hirtenzelt. Die glühenden Gesichter der Menschen, die nach und nach erwachen, werden, so viel ist sicher, noch eine Weile den eiskalten Winden der Steppe trotzen. Jedes einzelne Gesicht würde, so viel ist sicher, in den unendlichen Weiten dieser Räume verloren gehen, es würde erlöschen, doch in der Gemeinschaft ist ein punktueller Widerstand gegen die Widrigkeiten der Natur in diesen Breiten möglich. Die Rentiere umkreisen bereits seit den frühen Morgenstunden unruhig die Heimstätte des Hirtenvolks. All-Es ist auf eine Mitte hin konzentriert, die selbst nicht stillsteht, die aber doch eine unendliche Stille bereithält, nach der All-Es aus ist, weil All-Es danach ausgerichtet ist. Es ist Zeit, aufzubrechen. Was uns die Nomaden, denen wir unseren Einblick in ihre Jurte zu verdanken haben – es ist ein durch und durch wohlwollender - eigentlich sagen möchten ist, dass die Welt, in der wir leben, selbst in ihren entlegensten, menschenfeindlichen Regionen ungemein dichte Zentren der Zusammenkunft bereithält, magische Mitten des Mit- und Füreinanders, wenn man so will, wunderbar heilsame Räume inmitten der Extreme dieser Welt, in denen wir ankommen und uns sammeln, in denen wir zu uns finden dürfen und das es die Liebe zu unseren Mitmenschen ist, die das Herdfeuer in uns entfacht und fortwährend am Lodern hält.

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