Verliebte und Haifische
Aufgehender Stern der Kreativität III
Verliebte und Haifische
Die Annahme, dass es sich bei den beiden Steinen, die sich in der Mitte des vorliegenden Bildes befinden, um zwei Südseeinseln handelt – was man an der charakteristischen Blautönung der Wasserfarbe gut erkennen kann - auf denen, wie es aussieht, zwei Schiffbrüchige gestrandet sind, ist nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die beiden Überlebenden können von Glück reden, dass sie nicht aufs offene Meer hinausgetrieben wurden, bis vor Kurzem stürmte es nämlich außerordentlich! Es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass es sich bei den beiden um ein Pärchen handelt, das, möchte es wieder zueinanderfinden, den Sprung ins kalte Wasser wagen muss (das im Übrigen gar nicht so kalt ist, es hat, einen Augenblick bitte, wir halten kurz unsere Finger hinein, schätzungsweise 25 Grad Wassertemperatur).
Er, es handelt sich um den Geliebten, startet gleich mit einem Versuch, dass heißt, Er nimmt ordentlich Anlauf, ähnlich elegant oder fast so elegant laufen auch die Weitspringer während einer Olympiade an, allerdings bricht unser Held sein Vorhaben nach wenigen Metern ab, Er fürchtet nämlich, von Haifischen gefressen zu werden, sollte der Sprung daneben gehen, was allerdings bloß ein Vorwand ist. Die wenigen Weißen Haie, die die Gegend unsicher machen, machen einen großen Bogen um die Inseln, sie haben sich nicht auf Menschenfleisch spezialisiert, vorerst zumindest nicht. Doch auch Sie, die Rede ist von der Geliebten, traut sich nicht zu springen und das, obwohl die beiden Eilande an ihrer schmalsten Stelle nur wenige Meter entfernt voneinander liegen. Wir müssen den beiden Gestrandeten jedoch zu Gute halten, dass selbst uns, die wir uns in Tausende Meilen Entfernung befinden, nicht entgangen ist, wie die eine oder andere kapitale, mordsmäßig große Haifischflosse aus dem Wasser ragt! Andererseits ist die Erwartungshaltung unserer Inselbewohnerin ziemlich vormodern. Vormodern soll heißen, dass vor langer, langer Zeit, als die Menschen noch von einer Erdschreibe flach wie ein Knäckebrot ausgingen, Ritter auf edlen Rössern durch die Lande zogen und eine Heldentat nach der anderen vollbrachten. Die Recken brachten beispielsweise feuerspuckende Drachen zur Strecke, besiegten Riesen, die es gewagt hatten, die Gegend unsicher zu machen oder befreiten gefangene Hofdamen aus der Knechtschaft von Bösewichten. Ganz nebenbei verfassten die kühnen Edelleute auch noch Gedichte, dass heißt, die Ritter waren hauptberuflich poetisch unterwegs gewesen. Sie, die Rede ist noch immer von der Geliebten, wünscht sich in der vertrackten Situation, in der die beiden stecken, dass auch Er seinen Mut unter Beweis stellt und springt, dass wäre für sie nämlich ein Liebesbeweis, während Er die Situation naturgemäß ganz anders sieht und – nicht springt.
Was soll man dazu sagen, doch offenbar haben wir es im Fall der beiden mit einer klassischen Pattsituation zu tun.
Die Tage kommen und gehen und auch wenn wir bestätigen können, dass die Sonnenuntergänge in der Südsee äußerst beeindruckend sind - die erhoffte Rettung für unsere beiden Insulaner bleibt am Ende aus. Dabei weiß doch jedes Kind, dass die beiden Hauptdarsteller in einem Es-hat-uns-auf-eine-einsame-Insel-verschlagen-Hollywoodstreifen, die, nachdem sie auf wundersame Weise einen Flugzeugabsturz überlebt, sich auf eine nahegelegene Insel hinübergerettet und nach einer Reihe bestandener Abenteuer ineinander verliebt haben, zu guter Letzt doch von einem Rettungshubschrauber entdeckt werden, sonst hätte die ganze Geschichte nämlich kein Happy End. Vom vielen Warten nehmen unsere beiden Inselbewohner allmählich Züge von Einsiedlern an, ganz so oder so ähnlich muss wohl auch Robinson Crusoe ausgesehen haben, nachdem er erkannte, dass er das Eiland, auf das es ihn verschlagen hatte, auf eigene Faust vorerst nicht wird verlassen können. Allerdings versteht sich unser Pärchen trotz der Misere ausgesprochen gut! Die beiden benötigen auch keine Smartphones, um miteinander zu kommunizieren, wie auch, so ganz ohne Netz und Akkuaufladegerät dort draußen! Nein, die zwei erzählen sich abwechselnd die schönsten Geschichten, eine Art Deukameron, wie wir zu unserer Verwunderung feststellen, das Dekameron ist im Übrigen auf ganz ähnliche Weise entstanden. Tatsächlich erzählen sich die zwei – Not macht erfinderisch! - die ungewöhnlichsten Begebenheiten aus ihrem Leben. Absurde, schräge, groteske, skurrile, kaum oder nur schwer mit der Vernunft vereinbare Erlebnisse befinden sich darunter, aber auch solche, die mit Angst oder Scham besetzt sind; Geschichten, die sie zuvor mit niemandem geteilt, die sie niemandem mit-geteilt haben, traurige, auch tragische befinden sich darunter, dann wieder handelt es sich um sinnliche, gar frivole. Die beiden erzählen sich die Geschichten Abend für Abend und zwar vor dem Schlafengehen – Zubettgehen kann man zu der vertrackten Situation, in der die beiden stecken, nämlich nicht sagen. Die eine oder andere Geschichte findet sogar Eingang in ihre Träume, worin sie zuletzt ein recht vitales Eigenleben führen; Er und Sie brabbeln im Schlaf oder was ist Es, das die Geschichten weiterspinnt? Bei Schlechtwetter rufen sich die beiden die spannendsten Geschichten über teils meterhohe Wellen zu, dass heißt, sie werfen sich die Storys wie Spielbälle zu, die, bei näherer Betrachtung, aus kurzen und längeren Erzählsträngen bestehen; die Spannungsbögen der Geschichten übernehmen den Rest, sie setzen die Gravitation für einen Moment außer Kraft, ganz zur Freunde unserer beiden Turteltauben, die, weil sie sich in einem schwerelosen Zustand befinden, immerzu laut auflachen, so glücklich sind sie mittlerweile, dabei kann von einem Happy End gar keine Rede sein. Jedenfalls malen sich die beiden ihre Zukunft in den schönsten Bildern aus (wobei sie die Metapher von der einsamen Insel tunlichst vermeiden). Den Blicken nach zu urteilen haben sich unsere beiden Insulaner während ihrer Robinsonade über beide Ohren ineinander verliebt! Im Übrigen können die beiden von Glück reden, dass sich Kokospalmen auf den Inseln befinden, verhungern oder verdursten müssen sie vorerst nicht.
Die Annahme, dass die zwei schon im nächsten Augenblick von der Crew eines knapp 300 Meter langen Containerschiffs entdeckt werden, ist, bei näherer Betrachtung der Lage, nicht völlig aus der Luft gegriffen, mit ein wenig Phantasie trifft auch diese Mutmaßung zu. Der Frachter – er trägt zufälligerweise den Namen Minnesang - macht nämlich, anders als sonst, einen nicht allzu großen Bogen um die beiden Inseln. Gut möglich, dass der Kapitän die Ausfahrt verpasst hat und jetzt zusehen muss, dass er die Kurve kriegt. Just in diesem Moment, in dem wir mutmaßen, ertönt ein Schiffshorn...
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