Engelchen-Bengelchen
Öl auf Papier / 60 * 85 cm
Engelchen-Bengelchen
Alle tausend Jahre steigt er herab, der einzige fußballbegeisterte Engel weit und breit, lässt er die himmlischen Heerscharen hinter sich, verlässt er seinesgleichen, durchdringt er Raum und Zeit sowie weitere Dimensionen, von denen die Menschheit keinen blassen Schimmer hat, bis er in all seiner Pracht erscheint, hoch oben, über den Wolken, in ca. 7 Kilometern Höhe, ein genau genommen recht kleiner Engel, ein Engelchen wenn man so will, ein Engelchen-Bengelchen, um die Sache beim Namen zu nennen, ein relativ junges Kerlchen, schätzungsweise eine halbe Ewigkeit alt oder jung, wie man's nehmen möchte, das es, wie so viele junge Leute auch, nicht lange unter den Erwachsenen aushält, die weitaus älter sind, uralt sozusagen, vor allem aber kann der Engel die Akkuratesse der erwachsenen Engelschar, die während des alltäglichen Hofzeremoniells an den Tag gelegt wird, auf Dauer nicht ertragen, seine Langeweile hat insofern einen durchaus realistischen Hintergrund! Ein Jungspund von Engel, der regelmäßig Reißaus nimmt, alle tausend Jahre einmal, wie gesagt, wobei er sich vorzugsweise in Erdnähe aufhält, in der Erdatmosphäre genau genommen, der Planet Erde gefällt ihm nämlich ausgesprochen gut! Der Engel schreit seine Begeisterung, was die Erde angeht, förmlich heraus, wobei er es im Grunde genommen auf einen Ball abgesehen hat, eine Art menschengemachter Trabant, der hier oben in der Atmosphäre im Umlauf ist, und zwar seit Menschengedenken, genau genommen rast der Ball durch die Troposphäre, der Wind bläst hier oben nämlich außerordentlich, was dem Ballspiel durchaus zu Gute kommt. Engelchen-Bengelchen hält den Traumaball der Menschheit im Flug abwechselnd mit seinem rechten Fuß und Knie hoch, wobei er mit dem Kichern gar nicht hinterherkommt, so sehr gefällt ihm das Ballspiel, ab und zu spielt er auch mit Köpfchen, dass heißt, er jongliert den Ball auf seiner gleißend hellen Stirn, wobei er sich das Kunststück von einem der vielen Fußballspieler abgeschaut haben muss, die dort unten auf der Erde virtuos mit dem Ball umzugehen wissen, blind, mit verbundenen Augen gewissermaßen, auch seine beiden Schulterpartien kommen zum Zuge, wobei Engelchen-Bengelchen darauf acht geben muss, dass ihm seine Flügel nicht in die Quere kommen, was hin und wieder doch geschieht; begeistert, wie er vom Ballspiel ist, vergisst der Engel für Bruchteilen eines Moments, dass er ein geisterhaftes Wesen ist und Flügel besitzt, regelrechte Schwingen, die, einmal ausgebreitet, vom Nordpol bis zum Südpol reichen, wenn er sie denn einmal ausbreitet, ein kurzer Sturzflug sorgt nämlich in aller Regel dafür, dass er wieder zur Besinnung kommt. Jedenfalls gibt der Engel darauf acht, den Traumaball nicht allzu doll zu treten, in Wahrheit geht er äußerst behutsam mit ihm um, ja, er streichelt ihn regelrecht, schließlich ist ihm bewusst, dass der Ball die Wunden sämtlicher Menschen in sich birgt, kleine wie größere, ganz große aber auch, über alle Zeiten hinweg, was bedeutet, dass es sich um einen recht großen, voluminösen Ball handeln muss, schließlich leben gegenwärtig 8 Milliarden Menschen auf der Erde, was alles andere als ein Klacks ist und zuvor waren es auch einige Milliarden Menschen, die die Erde besiedelt haben. Man kann sich also gut vorstellen, wie so ein Ball aussehen muss, der die Traumata der gesamten Menschheit in sich birgt, und zwar nicht erst seit gestern, sondern von Anbeginn an! Die Behutsamkeit, ja, das Feingefühl, das der Engel aufbringt, während er mit dem Traumaball der Menschheit Fußball spielt, sie spricht für ihn, für seine Empathie, schließlich lässt ihn das Schicksal der Menschheit nicht kalt, obwohl es in der Troposphäre, wie gesagt, ziemlich ungemütlich werden kann, die Winde wehen hier oben außerordentlich! Vielleicht handelt es sich um ein kleines Wunder, vielleicht auch nur um einen Zufall, doch alle tausend Jahre einmal kann es geschehen, dass die Menschen einen sanften, wohltuenden Druck auf ihren Wunden verspüren und aufjauchzen, ganz so, als würde irgendwer oder irgendetwas seine Hand darauf legen, und zwar weltweit, in allen Herren Ländern, über alle Landesgrenzen hinweg. Man kann in solch einem Moment durchaus von einer glücklichen Fügung sprechen, von einer Zusammenfügung der Menschheit, zumindest was die Linderung ihrer Schmerzen betrifft, ganz gleich, ob es sich um die Zahnschmerzen eines Schwergewichtsboxweltmeisters handelt, um die Wehen einer jungen, werdenden Mutter oder um die Wunden eines altgedienten Veteranen, nicht, weil Armut, Krankheiten und Kriege aus der Welt wären, sondern weil für Bruchteile eines Augenblicks so etwas wie ein universelles Glück greifbar ist, eine von Geisterhand synchronisierte Gelassenheit, die alle Menschen erfasst und einschließt, und zwar, wie gesagt, weltweit, in allen Herren Ländern, über sämtliche Landesgrenzen hinweg. Man kann auch von einer real gewordenen Utopie sprechen, auch wenn das Ereignis für Bruchteile eines Augenblicks währt und gleich wieder vergeht, eh man's sich überhaupt vergegenwärtigen konnte. Kaum nämlich hat die Menschheit aufgejauchzt, kaum ist ein weltweites Kichern zu hören, nimmt der Engel seine Flügel in die Hand und saust er auf und davon, durchdringt er Raum und Zeit sowie weitere Dimensionen, von denen die Menschheit keinen blassen Schimmer hat und kehrt er zu seinesgleichen zurück. Den Klang des Hornes, der seinen Rückflug einfordert, war offenbar nicht zu überhören.
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